- Pazifismus: Die Waffen nieder!
- Pazifismus: Die Waffen nieder!Eine Welt ohne Krieg ist ein alter Traum der Menschheit, der bereits in der griechisch-römischen Antike geträumt wurde. Seit dem Hochmittelalter und bis in die Neuzeit zeugen in Europa sowohl Werke der Dichtung und der bildenden Kunst als auch von Philosophen und Staatsdenkern ersonnene Konzepte zur Überwindung des Krieges von der Friedenssehnsucht der Zeitgenossen.Aber erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts suchte das Streben nach Frieden und Friedenserhaltung nach wirksamen organisatorischen Formen. Die Erkenntnis, dass der Frieden nicht den wechselnden Interessen der Herrschenden überlassen bleiben dürfe, sondern von den Völkern selbst herbeigeführt werden müsse, ging hervor aus kollektiven Kriegserfahrungen im Zusammenhang der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft. Als Ergebnis bürgerlicher Emanzipation stand sie im Zusammenhang der Aufklärung und der politisch-ökonomischen Umwälzungen Europas seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die zur politischen Wirkung drängende bürgerliche Gesellschaft verlieh dem Krieg neue Legitimationen. Seither wurden mit der Entwicklung nationaler Gesellschaften zu Nationalstaaten Kriege möglich, die sich durch die Mobilisierung der gesamten Nation und im Willen zur völligen Vernichtung des Gegners von nahezu allen vorausgegangenen Kriegen unterschieden. In solcher Perspektive eröffnete sich das Betätigungsfeld der bis zum Ersten Weltkrieg bürgerlichen Friedensbewegung. Erste Friedensgesellschaften entstanden in den USA - 1814 in Massachusetts und 1815 in New York - und in Großbritannien - 1816 in London -, in beiden Fällen auf einem von den Friedenskirchen, den Mennoniten und Quäkern, bereiteten Boden. Ähnliche Unternehmungen schlossen sich in Paris 1821, in Genf 1830 an.Nation - Friede - FreiheitDie Geschichte der Friedensbewegung ist zugleich die Geschichte ihrer Dilemmas. Die Kraft des Nationalismus war im 19. Jahrhundert so stark, dass kaum eine der nationalen Friedensgesellschaften sich ihm zu entziehen vermochte. Aus der Wechselwirkung zwischen Pazifismus, Nationalismus und Streben nach Freiheit in der Frühzeit der kontinentaleuropäischen Friedensbewegung erklärt sich die Zustimmung radikaler Pazifisten zu revolutionären Kriegen mit dem Ziel der Abschüttelung repressiver Herrschaft und zu Kriegen mit dem Ziel der Befreiung solcher Völker, die Fremdherrschaft unterworfen waren. Daraus ergab sich die Bejahung nationaler Befreiungskriege. Als idealer Endzustand galten die »Vereinigten Staaten von Europa«. Der Wille zur Beschleunigung eines Prozesses, der ein Zeitalter friedlicher Völkerbeziehungen einleiten sollte, führte 1867 zur Gründung der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit in Genf.Ein gemäßigter Flügel der Friedensbewegung hatte, von Großbritannien ausgehend, bereits vorher begonnen sich zu internationalisieren und für seine Forderungen nach schiedsgerichtlichen Verfahren zur Regelung zwischenstaatlicher Konflikte seit 1848 Friedenskongresse als Forum gewählt. Britischer Einfluss machte sich auch in der Werbung für Freihandel geltend. Im Rahmen eines gemäßigten Pazifismus traten zu dem Typus der religiös-philanthropischen Friedensgesellschaften der amerikanischen und britischen Anfänge und zum Typus pazifistisch orientierter Klubs zur Förderung des Freihandels seit den 1860er-Jahren Vereinigungen hervor, die Friedensvermittlung durch Schiedsgerichtsbarkeit propagierten. Neben den in den USA, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz bestehenden traten Friedensgesellschaften in Belgien, in den Niederlanden, in Schweden und schließlich 1887 in Italien ins Leben. Nach dem Scheitern mehrerer Anläufe gelang in Deutschland erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Aufbau einer pazifistischen Organisation. Sie verdankte sich der Initiative Bertha von Suttners, die den Erfolg ihres 1889 erschienenen Romans »Die Waffen nieder!« zu nutzen verstand, indem sie 1891 die Österreichische, 1892 die Deutsche Friedensgesellschaft gründen half. Für alle Friedensgesellschaften wurde 1891 das Internationale Friedensbüro in Bern als Koordinierungsstelle eingerichtet.Pazifismus und ImperialismusDie Aufwärtsentwicklung der Friedensbewegung seit Mitte der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts war eine Reaktion auf die im Zeichen des Imperialismus labiler werdende Weltlage. Neben dem Weltfriedenskongress von Hamburg 1897 trugen das Friedensmanifest des Zaren Nikolaus II. von 1898 und die dadurch veranlasste erste Haager Friedenskonferenz von 1899 dem organisierten Pazifismus größere Aufmerksamkeit ein. Indes konnte der Drang zu imperialistischer Politik durch die Friedensbewegung nicht gebremst werden. Bestimmt von seinem eurozentrischen Weltbild und an patriotische Rücksichten gebunden, nahm der Pazifismus der Zeit nicht grundsätzlich Anstoß am kolonialen Expansionismus der Großmächte, sondern folgte der Gewissheit, koloniale Betätigung sei durch eine kulturmissionarische Aufgabe legitimiert.Die Schwierigkeiten pazifistischer Werbung zeigten sich besonders in Deutschland. Dass sich die Friedensbewegung im Wilhelminischen Reich bemühte, keinen Zweifel an ihrer patriotischen Zuverlässigkeit zu erwecken, änderte nichts an ihrer Rolle als politischer Randerscheinung, denn im kaiserzeitlichen Deutschland galt pazifistische Betätigung als unmännlich und verächtlich. Doch konnten von der Friedensbewegung für die politischen und sozialen Strukturen des Reichs keine Gefahren ausgehen, solange in Deutschland, anders als in Frankreich, eine Verbindung zwischen bürgerlichem Pazifismus und sozialdemokratischem Antimilitarismus als undenkbar galt. Erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeichneten sich neue Tendenzen in der pazifistischen Werbung ab. Nun sah die Friedensbewegung ihre Aufgabe zunehmend darin, alle Anstrengungen für die Verständigung der Völker zu unterstützen, um den drohenden »Großen Krieg« abzuwenden. Jetzt traten Verständigungsorganisationen in Frankreich, in Großbritannien, in den USA, in Deutschland auf, ergänzt durch kirchliche und interparlamentarische Konferenzen unter sozialdemokratischer Beteiligung.Unabhängig davon hatte es immer einen religiös begründeten unbedingten Pazifismus gegeben, der sich in der Verweigerung jedweden Kriegsdienstes äußerte. Als eine auf individueller Einsicht und Entscheidung beruhende Haltung entstand der Pazifismus des russischen Dichters Tolstoi, ein aus dem Geiste der Bergpredigt begründeter Pazifismus, der den Verzicht auf Eigentum und staatliche Gewalt und gegenüber dem Staat gewaltlosen Widerstand forderte. Nur Mahatma Gandhi erzielte im 20. Jahrhundert eine ähnliche Wirkung für unbedingte pazifistische Verweigerung.Mit dem Kriegsbeginn brach 1914 eine Utopie zusammen: Der Krieg hatte sich, entgegen pazifistischen Erwartungen, nicht durch die Einsicht der Verantwortlichen verhindern lassen. Die Erfahrungen des Kriegs ließen pazifistische Organisationen neuen Stils und mit neuer Programmatik entstehen, worin sich die Unzufriedenheit radikaler pazifistischer Kräfte mit dem unzulänglich erscheinenden Vorkriegspazifismus äußerte. In den neuen Organisationen drückte sich die Abkehr von einer gesellschaftlichen Nichteinmischung des älteren Pazifismus aus, indem nun nach der Abhängigkeit der Außenpolitik von ihren innenpolitischen Bedingungen gefragt wurde.In der Zeit zwischen den Weltkriegen entstanden neue Aufgaben für die sich in zahlreiche Organisationen differenzierende Friedensbewegung, so die kritische Beobachtung des Völkerbunds ungeachtet seiner grundsätzlichen Bejahung, die Völkerverständigung, die Abrüstung angesichts neuer Vernichtungswaffen, die Auseinandersetzung mit totalitären Herrschaftssystemen. Der Aufgabenkatalog des organisierten Pazifismus erweiterte sich erneut nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Ost-West-Konflikts und auch nach dessen Ende: im Kampf gegen die Bedrohung des Weltfriedens durch den Einsatz atomarer, bakteriologischer und chemischer Waffen, durch internationalen Waffenhandel, ethnische Kriege und Menschenrechtsverletzungen.Prof. Dr. Karl Holl
Universal-Lexikon. 2012.